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Corona-Krise: Die Zeit sinnvoll nutzen und entspannt bleiben

10. April 2020 / Portraits
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Bleiben Sie dankbar!

Corona bestimmt unser derzeitiges Leben, und auch wenn die meisten von uns sich nach den letzten Wochen an die herausfordernde Situation des neuen Alltags bereits gewöhnt haben – so richtig gemeistert fühlt sich die Lage noch nicht an. Wir haben uns mit jemandem unterhalten, der sich mit den Themen Anspannung und Angst bestens auskennt: Oliver Haller aus München ist als Coach, Trainer und Speaker tätig und konzentriert sich hierbei vor allem auf die Themen Burnout und Stressmanagement. Im persönlichen Interview verrät er uns, an welchen Stellschrauben wir drehen sollten, um gerade jetzt entspannt bleiben und im besten Fall sogar auch positiven Nutzen aus der Situation ziehen zu können.

Bild: Anne Berwanger

Als Stressmanagement Coach hast du aktuell sicher eine ganze Menge Zulauf und Fragen zu beantworten. Was rätst du Menschen, die sich in Zeiten von Corona mit ihren Ängsten an dich wenden?

Das stimmt wirklich. Die Ängste kommen jetzt eher an die Oberfläche, sind aber nicht neu. Menschen, die grundsätzlich keine Existenzangst empfinden oder ein Urvertrauen in ihre Zukunft haben, werden auch im Stillstand seltener den Mut verlieren.

Insofern rate ich das Gleiche, wie sonst auch: Fokussieren! Sich zum Beispiel mit dem Thema Dankbarkeit zu beschäftigen, ist ein Trick, der tatsächlich immer funktioniert. Wir können nicht dankbar und besorgt zugleich sein, wir können auch nicht gleichzeitig dankbar und verärgert sein. Sprich, unser Gehirn kann den Fokus nur auf ein Thema legen, da ist dann kein Platz für andere Gefühlsregungen wie Angst oder Sorge. Das lässt sich trainieren und kann in Krisenzeiten sehr hilfreich dabei sein, nicht den Kopf zu verlieren.

Nicht nur in der aktuellen Situation geht es immer wieder darum, Unsicherheiten im Leben auszuhalten. Welche Faktoren spielen hierbei eine wichtige Rolle, die von jedem einzelnen zu beeinflussen sind?

Lass mich hierzu ganz kurz etwas ausholen: Das Leben ist nicht immer fair, da wir alle mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen starten. Neben der Prägung, die Eltern, Erziehung und Umwelt schon sehr früh bei uns hinterlassen, ist einfach sehr viel in unserer Genetik festgeschrieben. Die Forschung der Epigenetik zeigt, dass sogar der Umgang unserer Eltern und Großeltern mit Unsicherheiten beziehungsweise deren Resilienz, also ihre psychische Widerstandskraft, dabei eine Rolle spielen.

Aber jetzt kommt die gute Nachricht, wir können ganz vieles beeinflussen. Nicht unbedingt die Wirkung, die unser Erbe auf uns hat, aber den Umgang mit diesen Unsicherheiten. Wo kommt die Angst denn her? Wenn ich am Abend vor dem Schlafengehen noch schnell die letzte Statistik der Coronafälle ansehe, wird mich das nicht beruhigen. Wenn ich Menschen um mich habe, die selbst ängstlich sind und ständig die Gefahren hervorkehren, geht der Puls nach oben. Meiner Meinung nach müssen wir uns nicht nur in unsicheren Zeiten möglichst fern von diesen Einflüssen halten. Und das rate ich meinen Klienten: Seid informiert, aber nicht über-informiert, schaut zu, dass es euch im Rahmen des Möglichen gut geht, dass ihr euch viel bewegt und genügend Schlaf bekommt – dann lässt sich auch diese Zeit überstehen. Ein Informationsdefizit muss nicht immer schlecht sein – lasst euch bitte nicht verrückt machen.

 

Stichwort menschliche Programmierung: Wie unterscheidest du zwischen gesunden und ungesunden Routinen im menschlichen Alltag und wie lassen sich positive Gewohnheiten langfristig am besten etablieren?

Das ist sehr individuell. Mit meinen Coaching-Klienten spreche ich viel über Krafträuber und Kraftquellen. Die hat jeder Mensch, allerdings an unterschiedlichen Stellen. Deswegen ist es unmöglich, eine allgemein gültige, umsetzbare Routine zu beschreiben. Das wäre vergleichbar mit Diätempfehlungen aus den Illustrierten. Die funktionieren auch selten.

Gewohnheiten sind Trainingssache. Positive wie negative. Das Gemeine ist nur, an den Positiven müssen wir meistens hart arbeiten, die negativen schleichen sich von selber ein. Aber so tickt unser Gehirn. Wir sind auf Überleben programmiert, nicht auf Wohlfühlen. Es heißt schließlich "Survival of the Fittest" und nicht "Survival of the Happiest"! Bedeutet übersetzt, wir schauen auf Gefahren und lösen Probleme, egal ob uns das gut tut oder nicht!

Der Code zur Programmierung ist simpel, die Umsetzung ist Arbeit. All das wiederholen und trainieren, was uns ehrlich gut tut. Anders geht es nicht. Immer wieder, bis es zur Gewohnheit geworden ist. Und wir alle wissen, das geschieht nicht über Nacht. Schlaue Menschen haben herausgefunden: Im Durchschnitt dauert es mehr als zwei Monate, bis eine Gewohnheit automatisch abläuft. Genauer gesagt 66 Tage. Also am besten jeden Tag ein kleines Zeitfenster dem widmen, was man ändern möchte. Die entstehende Routine macht die Gewohnheit!

Siehst du in der aktuellen Situation auch eine Chance für einen kollektiven Neuanfang?

Definitiv! Darüber wird zu Recht überall gesprochen. Vor allem von den Menschen, die auch sonst immer ein paar Gedanken für die positiven Seiten des Lebens übrig haben. Ich sehe aber auch die Gefahr, jetzt unter Druck zu geraten. Ich muss die Zeit nutzen, ich muss gestärkt aus der Krise herauskommen. Überall wird Kreativität gepostet und geliked. Was, wenn ich nicht der Typ dafür bin?

Aber eigentlich hast Du nach dem kollektiven Neuanfang gefragt. Ich empfinde eine große Hilfsbereitschaft unter Familien, Freunden, aber auch in der Nachbarschaft. Die Krise wird gemeinsam gemeistert – und das ist toll und genau richtig so.

Ich bin jedoch gespannt, wie der gefühlt existenzielle Überlebenskampf danach geführt wird. Es wird auch viel Neid und Missgunst geben, auf die, die in dieser Zeit Ideen hatten und umgesetzt oder gar Unterstützung vom Staat erhalten haben. Spannend!

Vielleicht noch eines. Die Chance ist da, für uns und auch für die Umwelt. Wenn wir jedoch versuchen, jede versäumte Reise nachzuholen und jeden Euro Verlust wieder reinzuarbeiten, wird die Erholung schnell wieder verloren sein.

 

Nicht jeder empfindet die derzeitigen Einschränkungen als negativ. Für manche Menschen liefert Corona auch die Legitimation, zuhause zu bleiben, auf Bewegung und frische Luft zu verzichten und einem Serienmarathon nach dem anderen zu frönen. Siehst du solche Auszeiten als wichtig und gut an oder wie ließe sich die Zeit zuhause deiner Meinung nach besser nutzen?

Ich finde es ehrlich gesagt gar nicht so schlecht, da die Ruhephasen normalerweise zu kurz kommen. Durch die offizielle Erlaubnis zum Nichtstun fällt bei vielen das schlechte Gewissen weg, und das ist sowieso kein guter Motivator. Allerdings geht das nicht lange gut. Wir brauchen Herausforderungen, ohne wird ziemlich schnell Unzufriedenheit aufkommen. Desto produktiver wir sind, desto besser fühlen wir uns. Das kennt jeder! Menschen in der Unterforderung geht es selten besser als denen, die zu viel auf der To-Do-Liste stehen haben.

Auf die derzeitige Krise angewandt bedeutet das: Auch im Kleinen Herausforderungen suchen. Dann ist jetzt eben die Zeit für den Frühjahrsputz, das Ausmisten, die Ablage, die schon seit Monaten auf Ordnung wartet. Jeden Tag einen Haken an möglichen, längst überfälligen To Do’s setzen, kann auch zufrieden machen.

 

In deinem Blog hast du einmal von den „Big 3“ gesprochen: Schlaf, Bewegung und Ernährung. Was ist in dieser Hinsicht gerade jetzt zu beachten?

Das Gleiche wie sonst auch. Viel schlafen, viel bewegen und gesund essen! Jedoch mit der einmaligen Chance, neue, gesunde Routinen in unser Leben zu bringen. Wann versuchen wir denn, wieder mehr Sport zu machen und uns so richtig zu erholen? Im Urlaub! Und dann schaffen wir es nicht, diese Dinge mit nach Hause in unseren Alltag zu nehmen.

Jetzt können wir Routinen dort etablieren, wo sie hingehören. In unseren eigenen vier Wänden. Erholung hat ganz viel mit dem eigenen Biorhythmus zu tun, der durch die Anforderungen von außen ständig gestört wird. Das merken wir vor allem beim Schlaf. Sich da besser kennenzulernen, kann ein großer und gesunder Helfer für die Zukunft sein. Schaltet den Wecker aus und schaut, was passiert. Versucht eure Video-Calls so zu legen, dass das möglich ist.

 

Die aktuelle Isolation birgt Gefahren gerade für Menschen, die vielleicht auch im normalen Alltag sehr introvertiert sind oder sogar unter Depressionen leiden. Wie kann solchen Menschen auch über die Distanz geholfen werden?

Das ist tatsächlich ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Menschen mit Depressionen ziehen sich oft zurück und haben weder die Kraft, noch den Mut, sich anderen zu öffnen oder gar Hilfe zu suchen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig das ist. Jetzt, in Tagen der kollektiven Unsicherheit, können sich Probleme zu unüberwindbaren Bergen auftürmen. Ich kann allen Betroffenen nur Mut zusprechen, im Sinne der Möglichkeiten rauszugehen und über die Situation zu sprechen. Und alle anderen bitten, Kontakt zu Familie und Freunden zu halten. Wir alle brauchen das Gefühl, mit Problemen nicht alleine zu sein. Depressive Menschen umso mehr. Die Botschaft muss lauten: Wir schaffen das gemeinsam, und wenn du gerade keine Kraft hast, trage ich dich ein Stück. Allein diese Botschaft bewirkt für Betroffene oft schon kleine Wunder.

 

Hast du ein persönliches Anliegen in dieser ungewöhnlichen und herausfordernden Zeit, das du uns hier zum Abschluss verraten möchtest?

Ja, ich habe tatsächlich ein Anliegen. Ich merke immer wieder, dass ich über den  Begriff  "Social Distancing" stolpere. Deswegen mein Appell: Bitte überdenkt diesen Ausdruck! Gerade jetzt brauchen wir nicht nur einander, sondern vor allem die emotionale Nähe. Deswegen finde ich den Begriff "Physical Distancing" weitaus passender.

Außerdem möchte ich anmerken, dass nicht alles immer nur schwarz oder weiß, gut oder schlecht ist. Auch nicht in der aktuellen Situation. Deswegen ist es wichtig, auch dankbar zu sein für all das Gute, das passiert. Nächstenliebe, Empathie, Hilfsbereitschaft – all das lässt sich momentan wunderbar beobachten und erleben. Ich wünsche uns allen, dass wir diese schönen Erkenntnisse speichern und die daraus resultierende Dankbarkeit hierfür mit in die Zukunft nehmen können.

 

Lieber Oliver, vielen Dank für das spannende Interview und viel Erfolg weiterhin!

Über Oliver Haller

Vom Fußballprofi-Anwärter über Stationen als Schauspieler bis hin zum Heilpraktiker und Osteopathen: Oliver Haller ist Allrounder und aufgrund seiner vielfältigen Erfahrungen bestens gerüstet, um professionell mit Menschen zu arbeiten. In Einzel-Coachings sowie in Seminaren für große Unternehmen beschäftigt sich der gebürtige Wiener primär mit den Themen Stressbewältigung und Burn-Out-Prävention. Mehr Informationen zu Oliver unter http://www.medcoaching-oliverhaller.com

Sie haben Fragen rund um das Thema Stressbewältigung in dieser unruhigen Zeit? Unter oliver.haller@gmx.at ist Oliver für unsere Stylemag-Leser persönlich erreichbar.